30 Jahre Deutsche Einheit – Wie vereint ist das Land tatsächlich?

30 Jahre Deutsche Einheit – Wie vereint ist das Land tatsächlich?

In den letzten Wochen und Monaten gab es in den Medien eigentlich nur ein definierendes Thema, abgesehen vom Virus und der Präsidentschaftswahl in den USA: 30 Jahre Deutsche Einheit. Auch die VoDi hat einen Artikel zu diesem Sachverhalt verfasst und veröffentlicht. Doch von vielen Seiten gibt es Kritik an dieser Feier des Landes. Schließlich gibt es heutzutage immer noch sehr viele Probleme, die den Alltag der ostdeutschen Bürger beeinträchtigen und stets begleiten. Diese sind oft von sozialer Gestalt oder betreffen die Infrastruktur der Bundesländer und Gemeinden. Viele Ostdeutsche fühlen sich vernachlässigt und von der Politik im Stich gelassen. Dies ist auch ein Grund dafür, dass in Ostdeutschland rechtsextreme Vereinigungen populär sind und teilweise gesellschaftlich geduldet werden.

Ein wesentlicher Grund für diese gesellschaftliche Spaltung liegt in den Einkommensverhältnissen vieler ost- und westdeutschen Bürger. Während das durchschnittliche Nettoeinkommen eines Westdeutschen im Jahre 2012 um die 30.000- 40.000 € betrug (1), verdiente ein durchschnittlicher Ostdeutscher gerade einmal die Hälfte

dieses Betrags. Diese Ungleichheit resultiert zu einem erheblichen Maße aus dem Faktor Standort der größten deutschen Unternehmen. So sitzen weltberühmte und wirtschaftsstarke Unternehmen aus Deutschland wie Audi oder Volkswagen allesamt in den westlichen Bundesländern. Laut der Linken-Arbeitsmarktexpertin Sabine

Zimmermann müsse die Regierung den Mindestlohn auf 12 Euro die Stunde heben und Leiharbeit grundsätzlich abschaffen, um die Ungleichheit im Einkommen zwischen ost- und westdeutschen Bürgern zu vermindern.

Eine weitere erhebliche Ursache für die finanziellen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen ist die Arbeitslosenquote. Der Webseite „t-online.de“ zufolge lag die Arbeitslosenquote im Jahre 2018 in Westdeutschland bei 4.8% und in Ostdeutschland bei 6.9% (2).

Schließlich hätten etliche Bürger Ostdeutschlands nach der Schließung vieler Betriebe im Zuge der Wiedervereinigung ihren Job verloren und seien dauerhaft gescheitert, einen neuen zu erlangen, so Sabine Zimmermann.
Aber selbst wenn es den Ostdeutschen gelingt, ihr Leben lang einen Beruf auszuüben und jahrzehntelang Rentenbeiträge zu zahlen, müssen sie sich im Durchschnitt mit mindestens 200 € weniger Rentenauszahlung begnügen als ein Westdeutscher in der selben Position.

Darstellung von Armut im Alter

Viele Menschen, die in hohem Alter nicht auf die Hilfe des Staats bauen können, müssen, anstatt den Rest ihres Lebens zu genießen, hungern und betteln.

Aufgrund von diversen sozialen und gesellschaftspolitischen Aspekten sind Ostdeutsche oft die Zielscheibe von Diskriminierung und Beleidigungen der eigenen Herkunft und Verhaltensweisen. Begriffe wie „Ossi“ kennen zwar die meisten, jedoch gibt es darüber hinaus etliche weitere Arten wie Westdeutsche Ostdeutsche verallgemeinernd beleidigen und diskriminieren. Punkte, die im Mittelpunkt von diskriminierenden Attacken stehen, sind vor allem die politische Einstellung vieler Ostdeutscher, der vermeintlich andere Kleidungsstil einiger, ungewöhnliche Dialekte, mangelnde Bildung sowie die Assoziation von Nazis mit Ostdeutschen. Zwar sind einige dieser Punkte wie die mangelnde Bildung durchaus nicht von der Hand zu weisen, jedoch helfen die stigmatisierenden und verachtenden Beleidigungen weder den Ost- noch den Westdeutschen bei der Bildung der sozialen Einheit.

Doch keineswegs darf man, wenn man sich mit der ostdeutschen Identität beschäftigt, vergessen, wie tief der Rechtsextremismus in dem Gedankengut der Ostdeutschen verankert ist und auf welchen Anklang rassistische und fremdenfeindliche Parteien und Organisationen innerhalb der Gesellschaft stoßen.

In einem emotionalen und persönlichen Artikel aus dem Tagesspiegel 3 erzählt Julius Betschka von seiner Jugend in den 90er-Jahren des Ostens.
Ursprünglich sei die rechtsextreme Bewegung der 90er, die rückblickend oft als Baseballschlägerjahre bezeichnet wird, aus Jugend- und Subkulturen wie den Punks, Pumpern, BMX-Fahrern und Gothics entstanden. Über die Jahre hinweg hätten sich etliche desorientierte Jugendliche radikalisiert und sich den Nazis angeschlossen, so Betschka. Als Schlüsselmoment können im Nachhinein die Krawalle, die Pfingsten 1994 in Magdeburg stattfanden, festgehalten werden. In dieser grausamen Zeit jagten rechtsextreme Ostdeutsche stundenlang Afrikaner durch die Straßen Magdeburgs. Die Ausschreitungen führten dazu, dass viele Menschen verletzt wurden und ein Opfer der Attacken sogar einen entwürdigenden Tot sterben musste. Was aber fast noch schockierender ist, ist die Tatsache, dass sich trotz riesigen medialen Interesses – es berichteten unter anderem „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ vor Ort – die Beauftragten und Regierungsmitglieder der Länder nicht mit dieser Zeit des Schreckens auseinandersetzen wollten, sondern die Ereignisse lieber klein redeten und vergessen wollten. Sogar der eigene Bürgermeister Magdeburgs wollte der Realität nicht ins Gesicht schauen und

verharmloste die Geschehnisse drastisch: Man solle ja nichts überbewerten und die Situation sei lediglich„bedauerlich“.

Abbildung eines ostdeutschen Nationalisten mit einer Weste, die rechtsextreme Symbole enthält

Viele Ostdeutsche haben einen falschen Stolz auf ihre rechtsextreme Vergangenheit und Gegenwart entwickelt und präsentieren diesen anhand ihres Kleidungsstils: Sie wollen überall und jederzeit auffallen.

Selbst 25 Jahre nach den Geschehnissen in Magdeburg ist der Rechtsextremismus immer noch ein Teil Ostdeutschlands. Insbesondere in den letzten Jahren radikalisierten sich viele Bürger im Zuge des Aufstiegs der „AfD“ neu und es steht eine zweite Welle des rechtsgeprägten Ostdeutschlands bevor. Warnsignale gibt es von allen Seiten: Ehemalige bzw. heutige Faschisten kandidieren als „normale“ Politiker bei Wahlen und erzielen oft Ergebnisse jenseits der 20%-Marke.

Zudem wiederholten sich 2018 die Pfingstkrawalle in ähnlicher Form: Nachdem zwei geflüchtete Iraker und Syrer den Deutschkubaner Daniel H. aus unbekannten Gründen in einem Dönerladen erstochen hatten, nutze die örtliche Naziszene dies, um die Stadt mit Hilfe von gewaltsamen Aufmärschen und öffentlich ausgetragenen Straßenschlachten, bei denen viele Menschen verletzt wurden, in Anarchie zu stürzen und Angst und Schrecken im Namen des Rechtsextremismus zu verbreiten.

Es lässt sich also festhalten, dass die Ostdeutschen in den letzten 25 Jahren fast nichts aus ihren Fehlern gelernt haben, der Rechtsextremismus nun sogar noch gefährlicher ist und der Ruf Ostdeutschlands und jener Ostdeutschen, die sich nicht den Nazis anschließen für lange Zeit beschmutzt ist und die ostdeutsche Gesellschaft und Politik als rückständig und die Arbeit der letzten Jahrzehnte als Katastrophe bezeichnet werden darf. Es liegt auf der Hand, dass das damalige Leugnen von rechtsextremen Gewalttaten wie den Pfingstkrawallen seitens der Politik im direkten Zusammenhang zu erneuten Taten wie den Aufmärschen in Chemnitz steht.

Unter Anbetracht dieser gesellschaftlichen Spaltung in fast allen Belangen des sozialen Lebens müssen wir uns die Frage stellen, ob Deutschland wirklich als vereintes Land bezeichnet werden darf. Zu groß sind die Unterschiede im Einkommen und in der Rente, Immer noch schwebt die Armut und das triste Leben im hohen Alter über Ostdeutschland, zu wenig änderte sich in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf rechtsextreme Gewaltdelikte, zu lange hat die Politik geschlafen und ebendiese Taten scheinbar willentlich vertuscht, zu stark ist die Abneigung mancher Westdeutscher gegenüber den Ostdeutschen,: Zu uneinig ist dieses „vereintes“ Land.

Text: Bruno Marcial, Sahastan Chandramohan

Bilder: Pixabay.com (Lizenzfrei)

Quellen:

(1): https://de.statista.com/themen/293/durchschnittseinkommen/
(2): https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_86549038/tag-der-deutschen- einheit-deutliche-soziale-unterschiede-zwischen-ost-und-west.html
(3): https://www.tagesspiegel.de/kultur/rechtsextreme-gewalt-in-ostdeutschland-ich-und-die- baseballschlaeger/25215410.html
Sonstige:
https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der- deutschen-einheit/47436/einkommen-und-vermoegen
https://taz.de/Diskriminierung-von-Ostdeutschen/!5501994/
https://www.zeit.de/2018/18/ostdeutschland-ostdeutsche-westdeutsche-sachsen
https://www.deutschlandfunkkultur.de/chemnitz-ein-jahr-danach-eine-gewalttat- spaltet-eine-stadt.976.de.html?dram:article_id=456827
https://www.tagesspiegel.de/politik/leben-in-ostdeutschland-die-einheit-steht-nicht- hoch-im-kurs/4605634.html